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Über den Menschen Martin Luther und die Erforschung des Mittelalters
2017 ist das Luther-Jahr. Die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation. Am 31. Oktober 1517 hatte Martin Luther (1483-1546) seine 95 Thesen gegen die Missstände der Kirche seiner Zeit veröffentlicht. Der legendäre Thesenanschlag gilt als Ausgangspunkt der weltweiten Reformation, die die Spaltung in evangelische und katholische Kirche zur Folge hatte.
In dieser Folge sprechen wir mit der in Oxford lehrenden australisch-britischen Historikerin Lyndal Roper über den Menschen Martin Luther, über seine Widersprüche und frühen Prägungen. Wer war dieser Mensch, der, wie Lyndal Roper sagt, mit dem Körper gedacht hat?
Lyndal Roper forscht zu Geschlechterrollen, Hexenverfolgung und Körpergeschichte der frühen Neuzeit. Pünktlich zum Luther-Jahr erschien ihre wegweisende Luther-Biografie „Der Mensch Martin Luther“, in dem sie ein sehr differenziertes Bild des Reformators zeichnet. „Luther konnte“, so Roper, „ ein wunderbarer Tröster sein, aber Menschen auch richtig niedermachen.“
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Veröffentlicht am: 9. Juni 2017
Dauer: 1:01:52
Ja viele und wir tun unser bestes, da entgegen zu wirken. Denn es ist für uns unheimlich wichtig und Brexit ist eine sehr ernste … ja es bedeutet eine sehr große Gefahr für die britische Wissenschaft. Und das aus einigen Gründen. Erstens und einfach klar ist natürlich das Problem, dass wir Forschungsgelder aus dem European Research Council, dass wir auf die sehr angewiesen sind. Und vor allem merkwürdigerweise in der Humanities. Das ist für eine sehr wichtige Quelle, aber es ist nicht nur eine Geldfrage, es ist eine Frage von Kooperation und intellektueller Bereicherung. Und bisher war es möglich, mit anderen in ganz Europa zusammen Projekte auszudenken und das hat für England eine sehr große Bedeutung gehabt, weil zum Beispiel Historiker, die immer nur über England gearbeitet haben oder über Gebiete, wo sie nur die englische Sprache gebraucht haben, die konnten mit ihren europäischen Kollegen zusammenarbeiten. Und das Problem ist, weil wir jetzt wahrscheinlich aus den europäischen Geldern oder die Gefahr besteht, dass wir ausgeschlossen werden, werden wir möglicherweise nicht mehr interessante Partner für sie und das ist tragisch. Denn das hat in den 10-20 Jahren so viel für die englische Forschung gebracht. Es hat den Blick geöffnet.
Ja wann hat das angefangen? Ja also jemand, der sagt, dass Klugsein ein Kleid ist, was Frauen übel ansteht, mit dem muss man sich auseinandersetzen. Also Luther ist die Figur im 16. Jahrhundert, der mich immer fasziniert hatte und also jeder hat eine Meinung zu Luther. Und ich wollte verstehen, was für ein Mensch er gewesen ist. Und das war für mich auch etwas, was mich gefesselt hatte, auch als Undergraduate, als ich Reformation history studiert habe. Und ich habe nicht direkt über Luther geforscht, weil Biografien damals irgendwie verpönt waren, das war nicht richtige Geschichte, hat man immer wieder behauptet.
Nein. Und das war natürlich auch damit zusammen verbunden, dass man gemeint hatte, wenn man zu viel auf ein Individuum fokussiert, dann fällt man in diese alten Klischees. Man heroisiert und man nimmt den Kontext nicht wahr. Und das ist natürlich eine Gefahr, wenn man eine Biografie schreibt. Und eigentlich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, was sind die Nachteile vom Biografieschreiben, würden ich schon meinen, dass gerade jetzt, wo wir Luther feiern – also ich finde, es ist für uns Historiker extrem schwierig, uns in diese Diskussion einzumischen und was neues und was historisches in die Diskussion zu bringen. es ist zu leicht in Heroisieren, was ist das Gegenteil von Heroisieren? Dämonisierung zu fallen. Und die eigentliche historische Frage, die man auch stellen sollte, jetzt hat man die einmalige Möglichkeit, das an ein breites Publikum zu bringen, gerade die zu formulieren fällt extrem schwer, wenn man von einer Biografie ausgeht.
Es gibt, also wenn man auf die Mutter schaut, dann sieht man, dass sie eine besondere Art von Religiosität praktiziert hatte, man vermutet, dass es viel mit Mediation und Franziskanern zu tun hatte. Man sieht diese Zeit, wo er in Eisenach auf der Schule gewesen ist. Diese Zeit, wir haben kaum historische Zeugnisse über diese Zeit, aber es muss ziemlich wichtig für ihn gewesen sein und da waren die Verwandten von seiner Mutter. Und da war er in der Schule. Es gab auch einen Priester und Lehrer, die ihn offensichtlich sehr beeinflusst haben. Und er war in einem Ort, wo er von einer Art von franziskanischer Pietät... das lag in der Luft. Und das hat sicher einen sehr großen Einfluss auf ihn gehabt. Aber als er die 95 Thesen angeschlagen hatte oder vielleicht hat er sie einfach an die Wand mit – wie heißt Glue auf deutsch?
Mit Klebstoff, es ist eher wahrscheinlich, dass er Klebstoff benutzt hat. Aber er hatte bis dann sehr wenig publiziert, er war unbekannt. Er war Theologieprofessor, aber in einer ganz abgelegenen neuen Universität. Und ich finde, um diese Hartnäckigkeit und Unabhängigkeit zu verstehen, da ist seine Kindheit in Mansfeld schon von großer Bedeutung. Denn Mansfeld war und das hat mich fasziniert bei der Forschung, ich bin lange in Wernigerode gesessen, habe mir viele Kopien bestellt, weil ich wollte wissen, wie haben diese Gesellschaften, wie haben diese Firmen funktioniert. Wie haben sie zusammenhalten können? Was waren die Gründe von Vertrauen? Wie haben die Verträge funktioniert? Und das alles ist überhaupt nicht in dem Buch drin, aber es war für mich wichtig, um mir ein Bild zu schaffen. Was für eine Welt war das? Und ich finde es ist sehr klar, dass das eine sehr unsichere Welt war, wo man zwar Verträge machen konnte, und zwar immer mit Partnern gearbeitet hat, aber diese Partner haben dann ständig gewechselt. Also man arbeitete 3-4 Jahre zusammen und dann hat man gewechselt und hat mit jemand anders gearbeitet. Und man führte immer ein Buch zu jeder Partnerschaft. Aber die Verträge und das Recht, Bergbau zu machen, das war alles unsicher rechtlich gesehen. Und man musste sich immer absichern. Und wie konnte man sich absichern? Eben durch starke persönliche Bindungen und womöglich durch Verwandtschaft. Das heißt wen man heiratet war sehr wichtig. Und wenn man schaut, das sind vielleicht 40 Familien und die sind alle verschwägert. Die haben alle zusammen geheiratet. Und Luthers Geschwister haben dann in diese Elite eingeheiratet.
Das ist sicher wichtig. Denn gerade in Bergbaugebieten habe diese Prediger sehr gewirkt und haben dann viele indulgences Verkaufen können. Das war ein gutes Geschäft. Und ich finde, es ist auch was anderes dabei. In einer Welt groß zu werden, wo alles unsicher ist, und wo nichts zwischen dir und Bankrott steht, nur Glück, das ist irgendwie eine direkte und unvermittelte Beziehung zu Schicksal. Und gerade diese Erfahrung meine ich in Luthers Beziehung zu Gott wieder zu erkennen. Also kein Vermittler, nichts zwischen dir und Gott, eine direkte Beziehung, wo alles auf dem Spiel steht. Und ich glaube, das kommt aus seiner Vergangenheit im Bergbau ein bisschen.
Eigentlich sind es eine Reihe von Punkten. Das sind scholastische Thesen. Es kommt aus dieser Vorstellung, dass man an die Wahrheit durch eine Debatte kommt. Dass man eine These aufstellt und dass es um Argumentation geht und Diskussion. Es ist eine Auffassung von Wissenschaft und wie man lernt. Und gerade diese Form nimmt Luther und macht daraus etwas, was ein bisschen anders ist. Denn er fängt an und es sind Sätze drin, die einfach prägnant sind und worüber man nachdenken muss. Und wenn er anfängt mit der Erklärung, also wenn unser Herr Jesus Christus gesagt hat, tu Buße, dann meinte er, dass das ganze Leben von den Christenmenschen ein Leben von Buße sein soll. Also Buße heißt nicht, dass man einen Ablass kauft. Buße heißt, dass man sich Gedanken macht über die Sünde und dass man eine Beziehung zu Gott entwickelt. Und wenn man die 95 Thesen liest, da ist kein ausgearbeitetes Programm da drin. Das faszinierende ist, das kam nach und nach. Das hat sich entwickelt. Und diese Jahre zwischen 1517 und 1520, wo man Luthers Theologie vor sich hat, das sind Jahre von unwahrscheinlich schneller Kreativität.
Ach ich finde, also Theologie war die Königin der Wissenschaften damals. Theologie war wie Soziologie in den 70er Jahren. Das war die Wissenschaft, wo die besten Köpfe gearbeitet haben und wo es neue Erkenntnisse gegeben hat. Und wo was los war. Und diese Art, wie sie Unterricht betrieben haben, bestand zum Teil aus eben Disputation. Und Disputation ist eine Form von Denken, was Luther sein ganzes Leben lang immer wieder benutzt hat und sehr geschätzt hat. Und das war die Methode, einem Doktorand Wissenschaft beizubringen. Durch Erstellung von Thesen. Thesen auseinandernehmen, kritisch durchschauen, kritisch diskutieren und auseinandernehmen. Und insofern ist die Playmobil-Figur genau richtig. Man nimmt alles auseinander, man nimmt Luther auseinander, man nimmt Thesen auseinander und man argumentiert.
Es sind eine Reihe von Gedanken, die zusammenkommen, zusammenfließen. Und eins davon ist etwas, was in Disputation mit Johannes Eck in Leipzig zuerst formuliert wird und wahrgenommen wird. Und zwar ist das dieses Prinzip, dass die Tradition der Kirche nicht das bedeutende ist, sondern die Schrift, die heilige Schrift, die Bibel, die ist die einzige Autorität. Und es geht nicht darum, die verschiedenen Kanones der Kirche nachzuforschen und da die Autorität zu finden, sondern die Schrift allein ist die Autorität. Und diese Ansicht ist für Luther extrem wichtig. Und dann ist die Erfahrung, dass man durch Gottes Gnade erlöst wird. Das ist für Luther auch sehr sehr wichtig gewesen. Und das hängt mit seinem Augustinismus zusammen. Und diese Ansicht, dass wir Sünder sind, dass wir alle Sünder sind und dass wir die Gnade Gottes niemals verdienen können. Wir können nicht gute Werke tun und so unser Heil dann durch diese Werke verdienen. Das geht einfach nicht. Sondern Gnade ist eine Gabe, die von Gott kommt. Und wir werden es nie wert sein. Wir werden es nie verdienen können. Und diese Ansicht war, also hing für Luther mit seinen Anfechtungen zusammen. Er behauptete, er sei ein guter Mönch gewesen, er war sehr papsttreu, er hat gefastet, er hat sehr viele gute Werke getan. Aber er war ständig von Anfechtungen geplagt. Und es ist sehr interessant diese Beziehung, die er zu seinem Beichtvater gehabt hat, Johannes Staupitz, der seine Anfechtungen verstanden hat und ein bisschen darüber lachen konnte.
Ja. Aber gab es ein Turmerlebnis? Dieses Erlebnis setzt Luther in 1519 ein. Wenn man die Reihe von den Ereignissen nachliest und eigentlich hätte es in 1515/16 stattfinden müssen, als er die Vorlesungen über die Römerbriefe gehalten hat. Und genau das ist es nicht. Und natürlich ist das eine Stilisierung. Er will wie Augustinus sein spirituelles Leben beschreiben. Und die Geschichte von einer Bekehrung hat natürlich einen Kern von Wahrheit. Aber wir sind manchmal denke ich geneigt, das als ein Bekehrungsmoment verstehen zu wollen, wo es um etwas emotionales geht. Aber ich finde, es ist eigentlich ein langer intellektueller und emotionaler Prozess, was nicht plötzlich in einer Sekunde passiert ist.
Er hat dann, um das nochmal in den Kontext zu setzen, also 1517, deswegen haben wir ja jetzt auch gerade das Lutherjahr, da kamen seine Thesen, und wie wir jetzt gehört haben, erst in den Folgejahren kam es dann erst richtig zu dem Bruch mit der Kirche, die ja dann auch immer stärker gegen ihn vorgegangen ist. Wo er sich wahrscheinlich nur hat retten können – er musste ja dann glaube ich auch flüchten oder versteckt werden, um dort nicht entsprechend eingesammelt zu werden von den katholischen Häschern. In der Folge aber hatte er einen interessanten Erfolg, weil er dann ja selber angefangen hat, die Bibel zu übersetzen, in seiner eigenen Interpretation und anders als es bisher war, nicht wortwörtlich durch eine schlechte und vielleicht auch teilweise doppelte Übersetzung. Aus dem Griechischen kam es ins Lateinische, vom Lateinischen wurde es ins Deutsche übersetzt und man hat sich nicht so sehr viel Mühe gegeben. Sich darüber Gedanken zu machen, wie vielleicht das ursprüngliche Wort mal war, geschweige denn, wie das, was es denn damals wirklich bedeutet hat. Also ist das eine große Leistung, dass er hier bereit war aufgrund seines eigenen Neuverständnisses, so weit zurück zu den Quellen zurückzugehen, um im Prinzip eine komplett andere Interpretation in die Welt zu setzen?
Es war nicht die Bibelübersetzung glaube ich, die das alles irgendwie in die Wege geleitet hatte. Sondern das waren die theologischen Ansichten und die Art, wie er geschrieben hat in seinen polemischen Schriften. Und vor allem was für Worte er benutzt hat. Denn wenn man ein Wort wie zum Beispiel Freiheit benutzt, das ist ein Wort mit sehr viel Resonanz. Und man sagt, die Bauern haben das falsch verstanden und haben es dann auf die Leibeigenschaft angewandt. Und das hat Luther nicht gemeint. Aber ich glaube diese Jahre vor 1524, die waren Jahre, wo viel in Bewegung war. Das war eine historische Situation von Umbruch. Und wenn man zurückschaut, das ist faszinierend, wie bereit man war, alte Sachen in Frage zu stellen. Und das kam nicht nur von Luther, sondern von vielen, die von ihm beeinflusst worden sind. Und ich finde auch, das waren nicht nur seine Schriften, die so eine große Wirkung gehabt haben, sondern auch was er in Worms gemacht hat mit dem Erscheinen in Worms und einfach auf das beharren, was er geschrieben hat. Dieses Beispiel von Resistence und von Mut das war ein Vorbild, was extrem wichtig war. Genauso wichtig vielleicht wie seine Schriften.
Da wurde er gefragt, ob er nachgeben wollte. Ob er zurückrufen würde. Und es ist eine fantastische Begegnung. Man muss sich eine Halle mit dem Kaiser und sämtlichen Reichsständen vorstellen. Eine volle Halle, voll mit Menschen, die alle extrem elaboriert angezogen sind und da erscheint Luther in einer einfachen Kutte. Und am ersten Tag wird er gefragt und er sagt, ach darf ich heute /gemeint morgen?/ wiederkommen, ich brauche Bedenkzeit. Wenn man bedenkt, plötzlich. Dann kam er dann am zweiten Tag wieder und erklärt, was seine Schriften waren und welche auch nicht. Und was für Arten seine Schriften waren, dass sie nicht alle von derselben Art gewesen sind. Einige sind Erbauungsschriften, andere sind so und so und so. Und dann hat der Befrager einfach seine Geduld verloren und hat gesagt, dass er einen Antwort ohne Zähne und Hörner geben soll. Also das heißt ohne akademischen Jargon. Und dann sagt Luther, ich kann nicht anders, mein Gewissen ist an das Wort Gottes gebunden.
Das ist eine ganz bestimmte Zeit gewesen. Das ist nach dem Höhepunkt des Bauernkriegs und kurz nachdem Friedrich der Weise gestorben ist. Alles ist im Umbruch, aber die alte Ordnung ist wiederhergestellt. Und in dem Moment, nach all diesem Wirrwarr, heiratet Luther. Und er meint, er heiratet, um dem Teufel zu trotzen, dass er das macht, um dem Teufel zu zeigen, dass er die größte Sünde begehen kann, aber das hält ihn nicht von Gottes Liebe ab. Denn die größte Sünde ist, wenn ein Mönch und eine Nonne heiraten. Man hätte sich nichts schlimmeres vorstellen können. Gerade das macht Luther und ist befreit. Und die Anfechtungen kommen in dem ersten Jahr nach der Hochzeit nicht. Und das muss für ihn eine sehr große Erleichterung gewesen sein und das ist auch ein Zeichen, dass Gott eben diese Ehe wollte und segnet.
Weil die Kalvinisten bestehen darauf, dass das Abendmahl eigentlich eine Erinnerung ist. Das ist nicht etwas, wo man Gottes Blut und Leib eigentlich isst. Und die wollen nicht Gottfresser sein, wie sie die anderen beschimpfen. Denn das ist für uns, also für die, die Protestanten von heute sind oder die, die nichts am Hut mit Religion haben, das ist einfach man kann das nicht verstehen. Warum war das für Luther so unheimlich wichtig, dass er bereit war, die Bewegung zersplittern zu lassen. Dass er bereit war, mit Freunden zu brechen. Und dass er eigentlich die meiste Kraft und die meiste Energie seines Lebens eben in dieses Dogma investiert hatte. Das war für mich schwer zu erklären. Aber es war genau das, was mich als Forscher fasziniert hatte. Wie kann ich das erklären? Wie soll ich das verstehen? Das ist offenbar für Luther sehr wichtig gewesen. Und ich finde, wenn man das ernst nimmt, dann hängt es damit zusammen, dass Luther einer von den Theologen ist, die diese Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist eben nicht so streng macht wie die meisten Theologen im Westen. Dass er eher einer ist, der versucht, Fleisch und Geist zusammenzubringen und der eine erstaunlich positive Einstellung zum Körper gehabt hat.
Ihr Buch über Martin Luther die Biografie haben Sie ja auch genannt, der Mensch Martin Luther. Und man merkt schon, das ist ein Fokus hier. Hier geht es nicht nur um Geschichte als solche, sondern Sie haben schon sehr auf die Person geschaut. Deswegen frage ich nochmal nach. Das ist ein absurdes Bild, aber wenn man sich sozusagen die Persönlichkeit, die sich abzeichnet, in die heutige Zeit übersetzen würde, wie würde er die heutige zeit reflektieren, wohin würde er sich orientieren? Wäre in der heutigen wissenschaftsaufgeladenen Zeit Gott überhaupt noch ein Thema für ihn oder würde er sich weltlichen Dingen zuwenden oder war er tatsächlich jemand, der so sehr von Glauben und Religion geprägt war, dass er das auch in der heutigen Zeit gewesen wäre? Weil damals, haben wir ja auch am Anfang schon gemacht, war einfach Kirche sehr präsent und ein sehr inhärenter Teil der Gesellschaft. Das ist sie natürlich heute auch noch in Teilen, aber nicht in demselben Maße wie damals?
Ach das ist ein Glaubensbekenntnis, ein Glaubensdogma für Historiker, dass man eben Menschen nicht aus ihrer Zeit herausnehmen darf. Und dass sie so sehr von ihrer Gesellschaft und von ihrer Zeit geprägt sind, dass man sie sich ohne das überhaupt nicht vorstellen kann. Also das ist mein Ausweg. Ich finde, man ist immer geneigt, Luther mit Trump oder irgendjemandem gleichsetzen zu wollen und das finde ich das hilft uns nicht weiter. Und es verkleinert Luther. Er ist viel interessanter und viel wichtiger. Und seine Zeit ist einfach sehr wichtig, um ihn richtig verstehen zu können. Und wir sind zu geneigt, ihn übersetzen zu wollen oder zu vereinfachen oder in irgendeinen anderen Zusammenhang bringen zu wollen. Aber es gibt Sachen, die er getan und gemacht hat, die uns heute noch inspirieren können. Und ich sage das wohlwissend, dass es sehr viele Facetten von seiner Persönlichkeit gibt, die man also nicht mehr akzeptieren kann. Wie zum Beispiel seinen Antisemitismus. Das war viel schlimmer als ich mir vorgestellt hatte, viel körperlicher, viel kruder und lag auch viel tiefer und ist auch Teil seiner Theologie. Aber er ist auch einer, der die Übersetzung von dem Koran befürwortet hat. Und er hat sich auch eingesetzt beim Basler Rat, dass der Koran gedruckt werden sollte. Und ich finde, das ist etwas, wo wir uns Gedanken machen sollen. Denn ich finde, die Frage, mit der wir konfrontiert sind im Moment, die Fragen, sind nicht so sehr, wie kommen Katholiken und Protestanten miteinander aus? Was würde der Papst zu Luther meinen? Natürlich diese ökumenische Entwicklung ist natürlich eine gute und positive. Aber wenn wir es dabei belassen, ist das nicht so gut. Denn die eigentliche Frage, was unserer Gesellschaft jetzt bevorsteht, ist, wie verstehen wir Islam, wie können wir Islam besser verstehen? Wie gehen wir miteinander um? Und diese ist die Frage, die wir uns in diesem Jahr stellen sollen.