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FG038 Politische Zäsuren und das Recht

Über das Wesen des Rechtssystems und seine Bedeutung für die Stabilität einer Gesellschaft

Der Rechtswissenschaftler Benjamin Lahusen erforscht, wie die deutsche Rechtsprechung in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs funktionierte – und wie zahlreiche Prozesse erstaunlich nahtlos in der jungen Bundesrepublik fortgeführt wurden. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Frage, wie politische Zäsuren im Recht verarbeitet werden.

Noch im Februar 1945 schrieb Reichsjustizminister Otto Thierack an alle Gerichte, bei Feindannäherung erwarte er von seinen Behördenleitern, dass „in ihren Geschäftsbereichen in voller Ruhe“ weitergearbeitet werde. Obwohl die Gerichte unter Personalmangel litten, nicht selten in zerstörten Gebäuden tagten und Akten teilweise verbrannt waren, gab es kurz vor Kriegsende kaum einen Fall, der für die Justiz zu unbedeutend gewesen wäre. Deutsche Gerichte fällten in dieser Zeit nicht nur die sattsam bekannten Todesurteile; auch Ehescheidungen, Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Straßenverkehrsdelikte verhandelten sie mit stoischem Gleichmut weiter.

Benjamin Lahusen leitet derzeit die wissenschaftliche Nachwuchsgruppe „Die Verwaltung von Normalität. Deutsches Recht und deutsche Gesellschaft, 1944–1952“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2012 wurde er in das Stipendienprogramm der Daimler und Benz Stiftung aufgenommen, 2014 wurde er Freigeist-Fellow der VolkswagenStiftung. (Foto: Mirko Krenzel/ VolkswagenStiftung)

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Veröffentlicht am: 24. November 2016
Dauer: 1:23:32


Kapitel

  1. Intro 00:00:00.000
  2. Vorstellung 00:00:43.097
  3. Persönlicher Werdegang 00:01:57.420
  4. Zivilklagen am Ende des 2. Weltkriegs 00:15:34.492
  5. Krieg als systemirrelevante Umwelt 00:31:43.446
  6. Rechtsstaat und Institutionen 00:37:21.409
  7. Normalität als Stabilisierungsfaktor 00:42:12.364
  8. Die Situation nach dem Krieg 00:45:10.768
  9. Nachkriegssituation in Ostdeutschland 00:51:23.812
  10. Lehren aus der Betrachtung 00:58:40.677
  11. Justiz als Korrektiv 01:03:36.163
  12. Zukünfige Forschungsfelder 01:12:45.708
  13. Ausklang 01:22:23.912

Transkript

Tim Pritlove
0:00:43
Benjamin Lahusen
0:01:54
Tim Pritlove
0:01:54
Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:02:53
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:03:19
Tim Pritlove
0:03:41
Benjamin Lahusen
0:04:19

Ja.

Tim Pritlove
0:04:20
Benjamin Lahusen
0:04:20
Tim Pritlove
0:05:21
Benjamin Lahusen
0:05:26
Tim Pritlove
0:05:30
Benjamin Lahusen
0:05:35

Ja das Beweisorientierte. Also mir kommt es immer so vor, als wäre das dogmatische Arbeiten im Recht, also das Arbeiten in den Kernfächern Zivilrecht, Strafrecht, öffentliches Recht und so weiter sehr stark ausgerichtet auf die Entscheidungssituation des Richters. Das hängt damit zusammen, dass unsere juristische Ausbildung einen vorbereiten soll auf den Beruf des Richters, obwohl die allermeisten den Beruf dann später gar nicht ausüben, aber das ist aus historischen Gründen eben so gewachsen, dass wir eine richterorientierte Ausbildung haben, die auf eine Entscheidung hinausläuft und diese Situation hat man in den Grundlagenfächern nicht. Dort kann man sich wirklich freie Reflexion sozusagen erlauben. Da können die Gedanken schwirren in alle Richtungen und können dahinfliegen, man kann Entscheidungen offen lassen, man kann Dinge andeuten oder sagen, an der Stelle sind gute Argumente dafür und gute dagegen, deswegen kann ich die Entscheidung nicht treffen und lass es offen oder spreche eine Ergebnis aus, eine Salvatorische Klausel, die dann eben genauso klingt, ein einerseits, ein andererseits bleibt übrig. Die Aporie der Welt kann nicht aufgelöst werden. Und das ist eine Form der Distanznahme, die man in den Grundlagenfächern im Recht hat, in den Kernfächern meiner Meinung nach aber eigentlich nicht. Und deswegen gut kann man sich dann wieder darüber unterhalten, ob das nicht dem Wissenschaftsbegriff ohnehin inhärent ist, diese Offenheit, dass man das in den anderen Disziplinen auch hat. Letztendlich ist es dann vielleicht eine Frage der rhetorischen Strategie, wie man da vorgeht. Das wäre dann eigentlich nur gar nicht so wichtig. Aber ich würde wahrscheinlich sagen, die dogmatischen Fächer, so wie ich die wahrnehme, haben eher was zu tun mit einer Kunst, einer Kunsttechnik vielleicht.

Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:07:31
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Ja.

Tim Pritlove
0:14:28
Benjamin Lahusen
0:14:31
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:14:43
Tim Pritlove
0:15:34
Benjamin Lahusen
0:16:03

Das ist ein Nebenprodukt des Referendariats. Das juristische Referendariat habe ich als wirklich die armseligste Zeit des ganzen Studiums oder der ganzen Ausbildung empfunden. Also das war furchtbar, intellektuell wirklich grauenhaft. Und da saß ich in meiner Not im Amtsgericht Lichtenberg herum und wusste nicht aus noch ein, in 3,5 stündigen Sitzungen Zivilprozessordnung hoch und runter, wie man Klagen zustellt in Plattenbauten, wo drei Leute Müller heißen und so was. Das habe ich als wirklich schrecklich in Erinnerung und habe dann, weil mir gar nichts anderes mehr eingefallen ist, was ich da noch machen könnte, durch meine Gesetzessammlung geblättert. Was wirklich Ausdruck dann tiefer Verzweiflung ist, wenn man da aus Langeweile da in der ZPO blättert. Und da bin ich irgendwann auf einen Paragraphen gestoßen, den ich nicht kannte, nämlich 245 der Zivilprozessordnung. Der heißt Unterbrechung durch Krieg oder so ähnlich. Und da steht sinngemäß drin, dass im Falle eines Krieges alle Gerichtsverfahren, die gerade anhängig sind, also im Zivilrecht, unterbrochen werden und weitergehen sollen, wenn der Krieg vorbei ist. Das fand ich schon einen ganz bemerkenswerten Satz, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich wusste nicht, das sowas in der Zivilprozessordnung geregelt ist. Der hat aber in der Gesetzessammlung noch eine Fußnote und da steht ein Hinweis auf das Zuständigkeitsergänzungsgesetz vom 07. August 1952, das die Übernahme von Prozessen regelt, die an Gerichten anhängig waren am 8. Mai 45, an deren Sitz deutsche Gerichtsbarkeit nicht mehr ausgeübt wird. Das heißt konkret also in den verlorenen Ostgebieten. Vor allem da natürlich Olpen an der die???. Die Gebiete, die weggefallen sind, nach der bedingungslosen Kapitulation hatten natürlich auch Gerichte und Verfahren anhängig waren, konnte ab 52 im westdeutschen Bundesgebiet weitergeführt werden. So steht es da drin. Und das hat mich schon bei der ersten Lektüre wirklich elektrisiert, weil ich das überhaupt nicht für möglich gehalten hatte, und gedacht hatte, es kann doch überhaupt nicht sein, da war doch alles kaputt, da können gar keine Verfahren mehr anhängig gewesen sein, da war doch das ganze Leben dahin. So jedenfalls hatte ich das irgendwie mal gelernt, auch erzählt bekommen von den Großeltern, die einem dann immer das gleiche von den Bombennächten, wie alles furchtbar war.

Tim Pritlove
0:18:25
Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
0:19:06
Benjamin Lahusen
0:19:10
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:20:04
Tim Pritlove
0:21:00
Benjamin Lahusen
0:21:04
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:21:51
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:22:11
Tim Pritlove
0:23:32
Benjamin Lahusen
0:23:53

Mit Krieg ist darin nicht die Kriegserklärung gemeint. Das wird im Kommentar dann auch erläutert, dazu gibt es natürlich auch eine Kommentierung, die versucht, diesen Begriff etwas näher zu fassen. Die Kriegserklärung an sich genügt nicht, sondern es muss irgendeine Form von faktischer Unmöglichkeit eintreten. Und erst wenn die eintritt, wenn tatsächlich die Kriegshandlung so überragend wird und soweit eingreift ins tägliche Leben, dass man nicht mehr weiter arbeiten kann, dann tritt eine Unterbrechung durch den Stillstand der Rechtspflege ein. Das war auch so ein interessanter Punkt, weil ich eben in meinem etwa naiven Vorverständnis geglaubt hatte, dass die Zerstörung einer Stadt beispielsweise ausreichen würde, um den Stillstand der Rechtspflege einzuführen, das ist aber eben auch nicht so. Da gibt es dann ab Anfang 44 dann konkrete Anweisungen an die Gerichte, wie die da vorzugehen haben. Mit dem Tenor, dass sie doch bitte jede Unterbrechung vermeiden sollen. Also nicht einfach nur, weil da gerade ein Großangriff oder wie man dann damals immer gesagt hat, ein Terrorangriff der Amerikaner stattgefunden hat, soll man aufhören zu arbeiten, sondern man soll bitte schön so lange weiter arbeiten, bis es denn überhaupt gar nicht mehr geht. Und das tun die auch. Das hat dann bei mir das Schwergewicht insgesamt etwas verlagert auf die letzten Kriegsmonate. Also die Frage der Zäsur ist dann darüber so etwas in den Hintergrund getreten und ich wollte zunächst mal eine genaue Bestandsaufnahme mir erarbeiten, was dann nun eigentlich bei deutschen Gerichten noch passiert ist. Und habe deswegen in großer Zahl offizielle Lagebericht, inoffizielle Lageberichte, die geheimen Lageberichte und so was zusammen gesammelt aus den verschiedenen Oberlandesgerichtsbezirken und da kann man das dann sehr schön sehen, die schildern nach Berlin letzte Nacht Zerstörung unserer Innenstadt, alle Gerichtsgebäude sind kaputt, alle Akten sind verbrannt, der Gerichtsbetrieb wurde nicht unterbrochen.

Tim Pritlove
0:25:46
Benjamin Lahusen
0:25:47
Tim Pritlove
0:25:54
Benjamin Lahusen
0:25:56
Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
0:27:29
Tim Pritlove
0:28:05
Benjamin Lahusen
0:28:47
Tim Pritlove
0:29:47
Benjamin Lahusen
0:29:51

Das weiß ich nicht. Wenn Sie es ansprechen, ich muss der Frage mal nachgehen. Es liegt bei mir auch immer so nahe, daran irgendwie was deutsches zu sehen. Also das ist für mich natürlich auch der primäre Antrieb, weil ich selber halt auch ein Deutscher bin und der deutschen Kultur mich verbunden fühle oder der deutschen Geschichte und dann sehe ich immer da diese Biedermänner vor mir, die ihre unwichtigen Prozesse führen und diese Akten abtippen und denke immer, habt ihr denn nichts besseres zu tun? Und ich weiß natürlich, sie hätten sehr viel besseres zu tun gehabt. Aber haben sich mit diesem Besseren nicht auseinandersetzen wollen und haben dann eben sich vielleicht die Flucht, die ich nicht angetreten habe, vielleicht haben die die angetreten in ihre Akten und in die Normalität dieser bürokratisierten Welt. Aber um das mit anderen Ländern in Verbindung oder in Kontrast zu setzen, fehlt mir der Vergleich. Ich weiß nicht, ob es jetzt in vollentwickelten Bürokratien wirklich anders aussähe. Ob dann in Frankreich oder in England in vergleichbaren Situationen wirklich anders gehandelt worden wäre und was dann eigentlich der Gewinn gewesen wäre, wenn man da anders gehandelt hätte. Also natürlich würde ich da häufig erwarten, dass in den Akten irgendwie mir dieses Grauen der Zeit entgegen springt, aber ich sehe es dann nirgendwo, aber vielleicht ist es auch gar nicht hilfreich. Vielleicht wäre es gar nicht hilfreich, wenn es einem dann entgegenbringt und wenn die überall auf jeder Seite was anmerken und sagen, ja heute ist wieder dies und jenes Furchtbare passiert, aber das lassen wir jetzt beiseite und gehen zurück zu unserer Akte, das würde ja eigentlich auch niemandem helfen. Aber ich weiß es nicht. Ich vermute allerdings, dass es dort ähnlich war oder ähnlich gewesen wäre, wenn es dort vergleichbare Situationen gegeben hätte.

Tim Pritlove
0:31:42
Benjamin Lahusen
0:32:24
Tim Pritlove
0:33:55
Benjamin Lahusen
0:34:01
Tim Pritlove
0:34:47
Benjamin Lahusen
0:34:54

Das wäre plakativ formuliert, aber das ist einer der Befunde, zu denen ich gekommen bin. Und man kann nicht sagen, dass alles normal wäre. Der Ausschnitt, den ich betrachte, der ist normal. Und die Normalität gewinnt an Kraft, an Suggestivkraft und an Besonderheit, an Merkwürdigkeit natürlich nur dadurch, dass sie vor der Folie stattfindet einer totalen Unnormalität und eines totalen Ausnahmezustandes. Und dieses Nebeneinander interessiert mich. Und ich habe mir diesen einen Aspekt rausgesucht, einfach deshalb, weil ich der Ansicht bin, dass über den anderen schon sehr viel geschrieben ist und dass die Konzentration auf diesen anderen Aspekt eine gewisse Entfremdung verursacht hat. Man fühlt sich mit der Zeit nicht mehr verbunden, hakt die eben immer so ab und sagt, ja da kommt das Dritte Reich, da war alles dunkel und schlecht und böse. Und ab 45 ist man dann zurück wieder beim Licht. Und jetzt weiß man natürlich auch, dass es so nicht stimmt und dass es 45 auch noch sehr lange gedauert hat, bis da wirklich ein gesellschaftlicher Umbruch stattgefunden hat. Aber ich konzentriere mich auf diesen normalen Aspekt, weil ich der Ansicht bin, dass es der ist, den wir mit der damaligen Zeit teilen. Damit kann man sich irgendwie verbinden, sich identifizieren. Wenn da Leute ihre normalen Nachbarschaftsstreitigkeiten weiterführen, dann denkt man, dass die vielleicht doch so waren wie wir. Dass wir also moralisch noch nicht so weit davon entfernt sind von der Zeit, wie wir manchmal gerne hätten.

Tim Pritlove
0:36:25
Benjamin Lahusen
0:36:29
Tim Pritlove
0:36:35
Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
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Benjamin Lahusen
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Tim Pritlove
0:40:10
Benjamin Lahusen
0:40:59
Tim Pritlove
0:42:12
Benjamin Lahusen
0:42:29

Die Normalität scheint ein wesentlicher Stabilisierungsfaktor für so eine Gesellschaft zu sein. Also die total Kriegführung wird nicht dadurch unterstützt, dass die Justiz sich auch im totalen Krieg irgendwie engagiert. Sondern eigentlich wird sie dadurch unterstützt, dass sich die Justiz in dem Segment dem totalen Krieg sozusagen entgegensetzt oder verweigert. Dass der dort eben gerade nicht stattfindet. Das heißt die Normalität in der Justiz ist eigentlich so was wie die Verwirklichung einer Logik vom totalen Krieg. Auf eine indirekte Art und Weise. Man unterstützt den, indem man gerade die Formen nicht zerschlägt und nicht dem Kriegsgeschehen anpasst. Weil es wohl für die beteiligten Akteure, für die Kläger, für die Parteien, aber auch für das Justizpersonal eine doch erheblich beruhigende Form der Daseinsbewältigung zu sein scheint, wenn man sich solchen Routinen anvertrauen kann. Und da glaube ich auch, dass wir heute da nicht anders wären, wenn die Welt kaputt geht, wenn die Welt untergeht, dann ist es tröstlich, wenn wenigstens die U-Bahn pünktlich fährt. Und das ist dort irgendwie auch festzustellen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Die Justizjuristen haben häufig keine andere Wahl, die werden dann ab Februar 45 mit handfesten Drohungen begleitet, wer da zu früh von seinem Arbeitsplatz flieht im Angesicht des Feindes, wird vor den Volksgerichtshof gestellt und so was. Also die haben nicht direkt die Wahl. Die Parteien allerdings hätten sowohl die Wahl, keiner wird gezwungen einen Zivilprozess zu führen. Völlig sinnlose Titel, die man da erstreitet. Der Nachbar soll bitte raus aus der Wohnung, in die er eingewiesen wurde, weil seine eigene zerstört ist. Jeder weiß, dass ein Titel nichts nützt, weil der erst dann ausgewiesen wird, wenn er eine Ersatzwohnung hat, aber die gibt es nicht. Also hat man dann irgendwann ein gerichtlich verbrieftes Recht, dass er da raus muss, sobald er eine Ersatzwohnung hat und die wird eben dann in einigen Jahren fertig sein. Aber das sind eigentlich völlig sinnlose Auseinandersetzungen, aber trotzdem scheint es die Leute irgendwie zu befriedigen, dass sie sich da in diesem Kommunikationsraum der Justiz bewegen, dort eine Protokollanten vorfinden, die gewöhnten Formulare, einen Gerichtsdiener, einen Pedell, Roben, Talare, Barette. Also irgendwie eine Welt, die so nicht mehr stattfinden dürfte, aber dort noch immer stattfindet.

Tim Pritlove
0:45:03
Benjamin Lahusen
0:45:10

Ja.

Tim Pritlove
0:45:11
Benjamin Lahusen
0:46:21
Tim Pritlove
0:47:31
Benjamin Lahusen
0:47:34

Das ist nach Grundgesetzartikel 131, der den Beamten eine Wiederanstellung im öffentlichen Dienst garantiert hat. Und dazu wird dann später ein Ausführungsgesetz erlassen und dann werden die aus dem Justizdienst, spätestens dann, werden sie alle übernommen. Was dann diesen komischen Aspekt hat, dass man Ender 40er, Anfang der 50er Jahre ortsweise eine höhere Quote an Parteimitgliedern hat als während des Dritten Reiches selber. Weil man erst mal die Alten berücksichtigen muss, bevor man dann Neue anstellen kann. Und die faktischen Probleme, mit denen man zu tun hat, ändern sich durch die Kapitulation natürlich auch nicht so grundlegend. Man hat dann plötzlich diesen riesigen schwarzen Markt, den man vorher aber natürlich auch schon hatte. Jetzt findet er vielleicht etwas offener statt und kann auch offener thematisiert werden. Man hat sehr viele Eigentumsdelikte, also Diebstahl, Betrug, Hehlerei und so was. Aber man findet auch gelegentliche Hinweise darauf, dass die Situation im Krieg eigentlich, wie soll ich sagen, noch nicht so schlimm war. Also dass beispielsweise jemand, der schwarz schlachtet, im Krieg 41/42 mit einer milderen Strafe rechnen muss, als 45 dann, als die Versorgungslage schlimmer ist und wenn man das im Rückblick betrachtet 46/47 und sich da irgendeiner rechtfertigen muss, warum er irgendjemanden zu so einer Strafe verurteilt hat, dann sagen die häufig, ja die Milde der Strafe ist dadurch zu rechtfertigen, dass 41 die Versorgung noch nicht so schlimm war. Und das kann man dann 46/47, als es wirklich schlimm wird und die Leute dann hungern, schwieriger plausibel machen.

Tim Pritlove
0:49:11
Benjamin Lahusen
0:49:15

Ja.

Tim Pritlove
0:49:17
Benjamin Lahusen
0:49:30

Ja klar. Das sehen ja auch die Alliierten so. Die Alliierten kommen, machen erst mal alles zu, aber haben selber das vitalste Interesse daran, dass die Justiz möglichst bald wieder auf die Beine kommt. Die kommen dann auch sehr schnell auf die Beine. Also in vielen Orten hier in Berlin ist Ende Mai die Justiz wieder am arbeiten. Die braucht wirklich 3-4 Wochen und dann hat man die Quartiere wieder bezogen, teilweise neue gefunden. Gesetzessammlungen zusammengesammelt aus den Ruinen. Andere Literatur. Hat unbelastete Juristen gefunden der allerersten Stunde. Teilweise dann natürlich auch belastete Juristen gefunden, mit denen man trotzdem irgendwie weiter operiert. Das geht überwiegend sehr schnell deshalb, weil die Leistungen, die die Justiz erbringt, unverzichtbar sind. Das ist die konkreten Entscheidungstätigkeit im Urteil. Bestimmte Dinge müssen in Rechtsförmigkeit übertragen werden, damit man damit irgendwie operieren kann. Aber häufig sind es auch eben ganz verwaltungstechnische Angebote, die da erbracht werden. Also Grundbücher, die geführt werden, Register, Handelsregister, Genossenschaftsregister und so weiter, die müssen weiter bearbeitet werden. Wenn nicht, dann befürchten alle, versinkt man im totalen Chaos. Deswegen gibt es ein starkes politisches Interesse, das möglichst schnell wieder weiterzuführen und der Apparat ist, also ich will nicht sagen, intakt, das wäre zu übertrieben formuliert, aber der Apparat hat sehr viel weniger Blessuren abbekommen, als man angesichts der faktischen Zerstörung meinen könnte. Und deswegen kann man da auf Restbestände zurückgreifen, die in bestimmter Weise dann politisch neu justiert werden müssen, die aber als Bestand weiter Verwendung finden können.

Tim Pritlove
0:51:12
Benjamin Lahusen
0:51:20

Ja.

Tim Pritlove
0:51:24
Benjamin Lahusen
0:51:48

Ja das kann man chronologisch so sagen, allerdings muss man dann natürlich demographisch noch differenzieren. Wir haben bisher wahrscheinlich implizit eine westliche Perspektive eingenommen. Wenn man in die sowjetische Besatzungszone überwechselt, dann sehen die Verhältnisse natürlich anders aus. Die SMAD, die sowjetische Militäradministration Deutschlands hat sich das Ziel gesetzt und es auch durchgesetzt, alle Parteigenossen aus dem Justizdienst zu entfernen. Und das ist soweit ich weiß nahezu restlos geglückt. Also da werden immer wieder Listen geführt, ob da noch irgendwo einer sitzt und dann findet man gelegentlich noch so im gehobenen Dienst oder mittleren Dienst irgendwo einen und diskutiert dann, ob man den noch behalten kann oder nicht. Soweit ich weiß, hat es unter den Justizjuristen wirklich so gut wie gar keinen gegeben, der sich als Parteimitglied im Justizdienst in der SBZ noch halten konnte. Also dort findet tatsächlich ein radikaler Spruch statt mit den bekannten anderen Problemen. Man muss dann irgendwie Ersatz herbeischaffen, den findet man natürlich nicht so schnell, deswegen werden dann diese Volksrichter in Schnellkursen ausgebildet und in anderer Art und Weise ideologisch vorbereitet auf Dienst am System. Aber im Osten hat man natürlich eine deutliche Zäsur was das Personal angeht. Was den Betrieb selber natürlich auch nicht notwendig verändert. Also im Osten werden anhängige Gerichtsverfahren genauso weitergeführt. Im Osten gibt es dann 47 eine Anordnung im gerichtlichen Verfahren, die es ermöglicht, die Gerichtsverfahren der verlorenen Ostgebiete weiterzuführen. Also da ist man sogar schneller, eben weil man mehr Flüchtlinge hat als im Westen. Aber die Vorstellung, dass der Apparat ein kontinuierlicher ist und Verwaltung nicht einfach zerstört werden kann, nur weil die Gerichtsgebäude zerstört sind und die entscheidenden Akteure weg sind, die findet man im Osten auch. Und im Westen klar, da kommt der Umbruch dann 68, wobei der sich justizintern dann wenig ausprägt. Weil biografisch die meisten Fälle schon erledigt sind. Da sind sehr viele dann schon im Ruhestand.

Tim Pritlove
0:53:56
Benjamin Lahusen
0:54:04
Tim Pritlove
0:54:06
Benjamin Lahusen
0:54:14

Ja so kann man das sagen. Also auch die Sowjets haben ein ganz essentielles Interesse daran, dass der Betrieb wieder auf die Beine kommt. Und auch dort geht man prinzipiell von einem kontinuierlichen Strom der Verwaltung aus. Dort werden die Poltischen Spitzen viel radikaler abgeschnitten als im Westen. Also so Fragen, ich habe im Westen immer wieder damit zu tun, ob Urteile von Sondergerichten noch vollstreckt werden können. Und das ist eine Frage, also wenn einer im Krieg noch verurteilt wurde als Volksschädling, als Plünderer in einer Ruine nach einem Luftangriff oder so was, dann muss der im Westen damit rechnen, 46/47/48 noch immer wieder vorgeladen zu werden, vernommen zu werden, ob er damals noch verurteilt wurde, wenn ja zu welcher Strafe und dann wird man darüber debattieren, ob der noch einsitzen muss oder nicht. Volksschädling ist er nicht, aber ein Dieb ist er ja immer noch. Und da gibt es dann Fälle, wo die dann irgendwie 46/47 nochmal ein paar Monate eigentlich einsitzen müssten und dann sagt man, gut das wird jetzt erlassen im Gnadenwege. Also heute würde man Bewährung dazu sagen. Aber da geht man selbst bei diesen hochpolitisierten Verfahren davon aus, dass es ausreicht, die politische Beimischung irgendwie rauszunehmen und der Rest bleibt dann erhalten. Und das findet man im Osten nicht. Also dass da Sondergerichtsurteile noch weiter vollstreckt werden könnten, das habe ich wirklich irgendwo gefunden. Also dass überhaupt nur einer auf die Idee kommt, da nochmal die Angeklagten vorzuladen und die wieder vor ein Gericht zu setzen und sie erneut dazu aufzufordern sich zu rechtfertigen für irgendwelche offensichtlich ideologisch motivierten Delikte, also die Formulierung der Delikte war ideologisch motiviert nicht die Begehung natürlich.

Tim Pritlove
0:56:02
Benjamin Lahusen
0:56:17
Tim Pritlove
0:56:49
Benjamin Lahusen
0:56:52

Nein nein. Sie wurde durch eine andere ersetzt, und zwar schon sehr früh. Und ich bin sicher, dass es bei denen in der ersten Stunde häufig andere Pläne gegeben hat und man da wirklich sich versucht hat, an einen neuen Entwurf zu wagen, der aber sehr schnell dann auf eine andere schiefe Bahn gerät. Das ist die eine Einschränkung, die man machen muss und die andere wäre die Frage nach der Alternative, was man eigentlich hätte machen sollen. Und das weiß ich nun ehrlich gesagt auch nicht. Die Menschen waren ja nun mal da. Man hat dann diese 8 Millionen oder 8,5 Millionen Parteimitglieder. Ein riesiger Haufen in der Verwaltung und bei den Justizjuristen da sind unglaublich viele dabei, bei denen man in der Biografie nun nicht so furchtbar viele Dinge findet, die man heute beanstanden würde. Die sind Parteimitglied geworden, weil sie anders keine Karriere hätten machen können, weil sie die Familie ernähren wollten oder weil sie dies oder weil sie jenes tun wollen, haben sich mehr oder weniger politisch betätigt, manche exponierter, manche weniger. Mit denen muss man ja nun irgendwas tun. Und man kann schlecht sagen, die sind jetzt alle 40, könnten noch 25 Jahre arbeiten, aber wir setzen die jetzt auf die Straße. Also irgendwas muss man denen anbieten und irgendwas muss man tun, sonst kann die neue Gesellschaft nicht funktionieren. Und da nun dann einfach den Vorwurf zu formulieren, ihr habt die weiter beschäftigt, das wäre zu einfach. Man müsste da schon sich irgendein Alternativmodell überlegen. Und ich muss gestehen, dass ich es auch nicht hätte.

Tim Pritlove
0:58:21
Benjamin Lahusen
0:58:26
Tim Pritlove
0:58:27
Benjamin Lahusen
0:58:35
Tim Pritlove
0:58:41
Benjamin Lahusen
0:59:03

Also in historischer Hinsicht würde ich sagen, ist der Gedanke der Relativierung vielleicht kein schlechter. Das ist jedenfalls was, was ich lerne, die waren damals so wie wir. Das ist irgendwie was, was mich auch immer wieder verstört. Die waren so menschlich wie wir, die haben sich über ihre Nachbarn geärgert und haben die verklagt, haben ihre Prinzipien geritten und ihre Haare gespalten, so wie wir das heute vielleicht auch machen würden. Und das verstört mich zutiefst, weil ich immer die Leichenberge der Konzentrationslager vor mir sehe und dann nochmal vor Augen geführt bekomme, dass die, die das eine getan haben, auch das andere getan haben. Dass man sich davon also nicht leichtherzig distanzieren kann oder nicht einfach distanzieren kann. Also der berühmte Schlussstrich, den kann man deswegen nicht ziehen, weil wir so sind wie die und die so wie wir. Man kann die nicht in den moralischen Ausnahmezustand verweisen. Und sagen, die waren eben böse oder die waren schlecht oder die waren eben anders als wir. Sondern wir scheinen uns auf einer ganz menschlichen basalen Ebene irgendwie zu begegnen. Also ich gucke in diese Akte und sehe mich sozusagen selber. Und das ist finde ich historisch jedenfalls für mich immer wieder verstörend. Ob man darüber dann hinaus für die Gegenwart auch noch was lernen kann, ist eine schwierige Frage. DAs hängt natürlich damit zusammen, ob man aus der Geschichte überhaupt irgendwas lernen kann. Ich bin da immer sehr skeptisch. Das wäre dann der alte bildungsbürgerliche Kampfruf, Historia Magistra Vitae, die Geschichte als die Lehrmeisterin des Lebens. Da habe ich immer ganz große Bedenken. Weil je länger man sich damit beschädigt, dann doch immer wieder oder immer weiter dazu kommt, dass die historischen Konstellationen auf ihre Art immer speziell sind und sich so Übertragbarkeiten eigentlich sehr schlecht etablieren lassen. Je weiter man guckt, desto mehr muss man sagen, nein eigentlich passt es doch nicht, die Zeit war irgendwie anders. In Syrien werden Grundbücher zerstört, damals wurden auch Grundbücher zerstört, ist das irgendwie vergleichbar? Wahrscheinlich nicht. Die Gesellschaft ist eine andere, der Staat ist ein anderer. Die verwaltungstechnischen Voraussetzungen sind andere. Irgendwie passt es nicht. Wenn ich trotzdem daraus eine Einsicht formulieren würde, dann ist es die in die Komplexität der Welt. Und das finde ich angesichts der besonderen Entwicklung der Gegenwart keine allzu banale Einsicht. Wenn man einen Verwaltungsapparat hat und Tabula rasa machen möchte, auf den Tisch hauen als der starke autoritäre Mann, dann genügt es nicht, einen totalen Krieg zu entfesseln, alle Gebäude zu zerstören, in denen diese Verwaltung sitzt, das Personal an die Front zu schicken, in den Tod zu schicken, die Akten verbrennen zu lassen. Der Apparat selber, der Aufbau der Gesellschaft selber ist so zählebig und so komplex, dass er sich solchen Eingriffen, solchen Zäsuren irgendwie widersetzt. Und das heißt übertragen auf die Gegenwart, dass es sich einfachen Lösungen widersetzt. Einfache Lösungen, so würde ich sagen, sind im Angesicht der Komplexität der Welt immer die falschen.

Tim Pritlove
1:02:24
Benjamin Lahusen
1:02:25
Tim Pritlove
1:02:27
Benjamin Lahusen
1:02:33
Tim Pritlove
1:02:39
Benjamin Lahusen
1:02:40
Tim Pritlove
1:03:35

Jetzt haben wir, um mal so ein bisschen auch in die aktuelle Zeit die Nase einzuhalten, schon heute noch eine besondere Bedeutung des Juristischen. Also ich denke, das was wir jetzt über diese Zeit am Ende des Zweiten Weltkriegs gehört habe, gilt natürlich mehr oder weniger auch für unsere Zeit jetzt. Diese Normalität stabilisiert diese Gesellschaft, ob man es jetzt Rechtsstaat nennt oder nicht, aber allein dieses Systems des Aushandelns von Konflikten innerhalb der Gesellschaft in einem zumindest halbwegs funktionierenden Maße zu haben, man kann natürlich jetzt viel kritisieren über den Durchsatz und überhaupt und Trends etc. Aber grundsätzlich denke ich ist vollkommen unumstritten, dass das Rechtssystem ein Hauptfaktor in der Stabilisierung einer Gesellschaft. Gäbe es das jetzt von heute auf morgen nicht, dann wäre gleich eine ganze Menge im Argen. Was sich derzeit ja so ein bisschen abzeichnet ist so diese Frage, inwiefern entzieht sich die Justiz auch diesen politischen Einflüssen. Wenn wir sagen, einfach Antworten helfen nicht weiter. Jetzt haben wir dieses komplizierte Rechtssystem, was ja dann aber auch trotzdem auch als politisches Korrektiv arbeiten muss, zumindest wenn es um Grundsatzfragen geht. Man sieht in den letzten Jahren, dass die Arbeit des Verfassungsgerichts sehr häufig sich mit Gesetzen auseinandersetzen muss, die erst vor Kurzem dann wieder beschlossen worden sind. Die vielleicht auch schon einmal oder zweimal vorher beim Verfassungsgericht behandelt worden sind. Was sind denn die Rahmenbedingungen, dass diese Justiz auch diese Leistung auch übernehmen kann, ein politisches Korrektiv zu bleiben? Weil das war es ja jetzt am Ende des Zweiten Weltkriegs in dem Sinne, zumindest in den betrachteten Fällen, nicht so sehr. Der Krieg spielte sich ab, der ganze Wahnsinn des Nationalsozialismus spielte sich ab, hat auch durchgegriffen auf den Apparat, aber der Apparat konnte nicht selber als Korrektiv fungieren, hat es nicht zurück beeinflusst. Derzeit haben wir glaube ich noch so ein bisschen dieses Spannungsfeld, dass die Unabhängigkeit des juristischen Systems doch ein starker Antipol ist für einfache politische Entscheidungswege. So nach dem Motto, das machen wir jetzt einfach mal, weil wir das jetzt mal machen können. Und dann kommt so das juristische System und sagt, ja nee so geht das aber jetzt nicht. Was ist dieser stärkende Faktor und ist der in Gefahr?

Benjamin Lahusen
1:06:29

Der stärkende Faktor konnte sich damals natürlich nicht irgendwie ausbilden, weil der so nicht vorgesehen war. Man braucht dafür ein System, was auf Gewaltenteilung gründet und in dem sich die Politik auf Recht verpflichtet. Das war in Weimar schon sehr fragil im Dritten Reich sofort kassiert. Ab 33 spielt es keine Rolle mehr und ist so nicht vorgesehen und wird auch explizit so abgeschafft. Das will keiner mehr, jetzt soll ja endlich mit harter Hand durchregiert werden. Solche Fantasien findet man gegenwärtig natürlich auch immer wieder, das Durchregieren. Dass es dann schneller geht. Dann fragt man sich, ob Demokratien überhaupt noch in der Lage sind, bestimmte Entscheidungsprozesse zu einem Ende zu führen. Wenn man dann hier an so Großprojekte denkt, den Berliner Flughafen, den Stuttgarter Hauptbahnhof, wo jahrelang irgendwelche Festsetzungsbeschlüsse ergehen und dann am Ende erhebt sich das Volk und sagt, so wollen wir das aber dann doch nicht haben. Und sagt, furchtbar und Demokratie muss man die alle anhören und alle an den Tisch bringen und beteiligen und ist das nicht schlimm. Wäre es nicht schön, wenn wir einfach wieder durchregieren könnten. Und in der Tat haben wir da eine Balance im Machtgefüge des Staates, die der Justiz in vielen Fragen die letzte Entscheidung zubilligt. Das Bundesverfassungsgericht hat da in gewisser Weise noch eine Sonderrolle, weil da die Politisierung von Anfang an eigentlich gewünscht war. Das ist irgendwie ein Fremdkörper, man definiert es ja gerne so, dass die Justiz eben der politikferne Bereich ist, der sich damit nicht auseinandersetzt. Und jetzt hat man eine Höchstinstitution, die explizit dafür geschaffen ist, auch politische Fragen zu entscheiden, und zwar einer rechtsverbindlichen Lösung zuzuführen und der Regierung selbst oder den eigentlich demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern selbst, die Grenzen ihrer Handlungsspielräume aufzuzeigen. Das ist damals ganz bewusst geschaffen worden, natürlich auch als Antwort auf den Nationalsozialismus als letztes Korrektiv. Ob das gegenwärtig in Gefahr ist, kann ich nur schwer sagen. Also einerseits natürlich ja, weil man diese Delirien hat, dass es so schön wäre, wenn man endlich mal wieder irgendwas machen könnte und endlich wieder irgendwas sagen dürfte. Andererseits sprechen die Fallzahlen und das internationale Ansehen, der Bedeutungszuwachs des Gerichtes irgendwie dagegen. Ich habe eigentlich eher den Eindruck, dass das Gericht in einer häufig wahrscheinlich unguten Art und Weise hineingezogen wird in den politischen Diskurs, dass man das, was man im Parlament nicht mehr mehrheitsfähig durchsetzen kann, dann irgendwie vor das Gericht trägt und sagt, gut wir akzeptieren hier die Niederlage bei der Abstimmung, aber wir verklagen euch dann später in Karlsruhe. Das ist dann sozusagen die Fortsetzung des politischen Diskurses mit anderen Mitteln. Eben mit justizförmigen Mitteln. Und das kann auf Dauer eigentlich nicht gesund sein. Das müsste auf Dauer dann auch das Ansehen der Justiz oder des Bundesverfassungsgerichtes dann konkreter untergraben, und dafür mag es schon Anhaltspunkte geben, da bin ich aber wahrscheinlich nicht der richtige Beobachter, um daraufhin befragt zu werden.

Tim Pritlove
1:09:41
Benjamin Lahusen
1:09:47
Tim Pritlove
1:09:53
Benjamin Lahusen
1:10:09

Ja ich bin da immer so hin und her gerissen. Also einerseits bin ich da ganz abgestoßen davon, wenn ich selber mal mich der Verwaltung ausgesetzt fühle und dann immer weiter irgendwelche Dinge ausfüllen muss und da hintragen muss und es reicht dann doch nicht und es wird noch gebeten, Beleg XY und die Geburtsurkunde und dies und jenes nachzutragen. Andererseits wenn ich nicht involviert bin und mich als Beobachter betätigen darf, muss ich wahrscheinlich anerkennen, dass es doch eine erhebliche zivilisatorische Leistung darstellt, die Lebenswelt in ihrer Zerklüftetheit so lange aufzuteilen und in Papierform zu bringen, bis man sich nicht mehr von Mensch zu Mensch gegenüber steht und ich weiß nicht mit körperlicher Gewalt über Dinge auseinandersetzt, sondern es eben in dieser Papierform tut. Und deswegen bin ich auch über die Schwergängigkeit und natürlich auch die Komplexität des Apparates überhaupt nicht erschreckt oder davon irgendwie aufgewühlt, sondern finde die eigentlich ganz wichtig, dass man sich in vielen Fragen Zeit nimmt. Die Zeit auch, so was in eine bestimmte Prozedur zu übertragen und bestimmte Förmlichkeiten. Finde eigentlich auch gut, dass es immer noch so konservativ gehandhabt wird, Fernsehen zuzulassen im Gerichtssaal. Dass man also bestimmte mediale Sicherungen gegen die Echtzeit einführt und ganz deutlich signalisiert, dass das, was dort stattfindet, einen Eigenwert hat, der gerade darin besteht, dass man sich für einen Moment um den Rest der Welt nicht zu kümmern braucht. Und daraus wird dann bei mir natürlich in meinen eigenen historischen Akten eine gewaltige moralische Anklage, weil ich denke, jetzt kümmert euch endlich um den Rest der Welt. Geht doch da hinaus, seht doch, was in Auschwitz passiert, macht die Augen auf gefälligst und zugleich ist es in der Gegenwart, wo in der Welt natürlich auch dramatische Dinge passieren, aber es auch wenig nützen würde, sich jetzt permanent darum zu kümmern, mir immer wieder klar, welcher besondere Wert darin liegt. Zivilisatorische Errungenschaft. Die Distanzierung oder Affektkontrolle. Man lebt sich dann nicht sofort aus, man greift nicht sofort zur hohen Gewalt, sondern begibt sich in die Arme der Justizförmigkeit.

Tim Pritlove
1:12:19
Benjamin Lahusen
1:12:30
Tim Pritlove
1:12:46
Benjamin Lahusen
1:13:31

Also das wäre sicher ein interessanter Aspekt, der mich reizen würde. Das historisch zu vergleichen und zu untersuchen. Wobei da leider meine westliche Sozialisation etwas die Grenzen zieht. Also im westeuropäischen Ausland würde ich es mir zutrauen, im osteuropäischen sähe es schon sehr viel schwieriger aus, weil ich der slawischen Sprachen nicht mächtig bin und mir da auch nicht zutrauen würde, die auf in absehbarere Zeit auf einem Niveau zu erlernen, was da Archivrecherche ermöglichen würde. Deswegen sind dem relativ enge Grenzen gesetzt. Also wie es in Polen aussieht oder in Russland, Ukraine, das fände ich sehr interessant und kann es aber wahrscheinlich nicht untersuchen. Mehr interessieren würde mich wahrscheinlich auch der vergleichende Blick auf die Gegenwart. Wenn wir davon sprechen von Modernisierung des Gerichtssystems, dann ist es ja nicht nur die Art und Weise, wie ein konkretes Gerichtsverfahren stattfindet, soll man da dann auch twittern können während der Verhandlung oder irgendwie so was? Sollen die W-LAN bereitstellen und alles übertragen ins Internet? Darüber kann man ja nachdenken. Man könnte aber natürlich auch darüber nachdenken, ob es nicht von Vornherein ganz andere Zugänge gibt, Konflikte irgendwie zu entscheiden. Also ein Stichwort, was gerade überall diskutiert wird wären die Schiedsgerichte. Natürlich internationale Schiedsgerichtsbarkeit, wie die sich nun eigentlich entwickelt hat, dass sie heute so ist wie sie ist, wie sie eigentlich konkret arbeitet. Darüber gibt es jetzt erst ganz umfassende Studien, aber die gibt es noch nicht so furchtbar lange. Also das finde ich interessant.

Tim Pritlove
1:15:00
Benjamin Lahusen
1:15:04

Ja genau. Weil die natürliche auch einen Modernisierungsdruck ausüben auf die deutsche Gerichtsbarkeit. So was nimmt man ja wahr. In manchen Gerichten beobachtet man oder in manchen Segmenten, dass die Fallzahlen rückläufig sind, was ganz eigenartig ist. Weil doch alles immer mehr wird und alles zunimmt, aber in bestimmten Fällen, ich glaube in bestimmten Formen des Arbeitsrechtes und anderen, also wirtschaftsrechtlich relevanten Bereichen beobachtet man, dass die Justiz weniger in Anspruch genommen wird. Was entweder dadurch erklärbar ist, dass weniger Konflikte auftreten, was man sich nicht so recht vorstellen mag, und deswegen dann vielleicht damit erklären muss, dass die Leute auf andere Formen der Konfliktbereinigung zurückgreifen. Also sich irgendwie außergerichtlich einigen oder Verträge schließen oder sich vielleicht vor internationalen Gerichtsbarkeiten verantworten. Schiedsrichter nennen, irgendwas anderes tun, Mediation. Und die Gerichte überlegen mitunter, wie sie da Schritthalten können. Also ob sie zum Beispiel Englisch als Sprache zulassen. Dass es für international operierende Firmen attraktiver wäre, sich statt in Paris vor der Handelskammer vor dem Landgericht Berlin auseinanderzusetzen, weil man da plötzlich auf englisch verhandeln kann oder so was. Deswegen finde ich solche Bereiche interessant. Sie lösen in gewässerweise diese Richterzentrierung des deutschen Systems, alles ist auf Entscheidung gepolt und läuft darauf hinaus, auf. Weil man dann eben als ausgebildeter Jurist womöglich auch noch andere Dienste irgendwie bereitstellen muss. Oder damit leben muss, dass das Rechtssystem sich in einer Welt wiederfindet, in der diese Entscheidungsgeneigtheit kein Spezifikum des Rechtssystems selber ist, sondern in vielen anderen Segmenten auch stattfindet.

Tim Pritlove
1:16:50
Benjamin Lahusen
1:17:13
Tim Pritlove
1:17:30
Benjamin Lahusen
1:17:39
Tim Pritlove
1:18:57
Benjamin Lahusen
1:18:59
Tim Pritlove
1:19:01
Benjamin Lahusen
1:19:47
Tim Pritlove
1:19:56
Benjamin Lahusen
1:20:03
Tim Pritlove
1:20:40
Benjamin Lahusen
1:20:43
Tim Pritlove
1:21:43
Benjamin Lahusen
1:22:33